Zeitzeugenbericht von
Julius Chaimowicz
Julius Chaimowicz, der zur Zeit der Novemberpogrome 1938 erst sechs Jahre alt war, berichtet davon, wie sich eine Nachlässigkeit als Glücksfall für seine Familie erwies.
„Die Waren wurden einfach zum Fenster hinaus geschmissen.“
„1938 waren Plünderungen jüdischer Geschäfte an der Tagesordnung. Unsere Wohnung war im dritten Stock. Wir hatten Gitter vor den Fenstern, mein Vater oder mein Großvater hatten die Gitter angebracht, damit wir aus den Fenstern schauen und dabei nicht hinaus fallen konnten. Wir sahen, wie der jüdische Greissler ausgeplündert wurde. Die Waren wurden einfach zum Fenster hinaus geschmissen.
Meine Eltern hatten, weil mein Vater in der Slowakei geboren war, 1938 ein tschechisches Emblem auf ihre Mäntel genäht, damit sie geschützt sind. Mein Vater ging zur tschechischen Botschaft und beantragte Pässe, weil er nie die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt hatte. Er hatte sich einfach nicht darum gekümmert, das war unser Glück.
„Sie schlugen ihn und traten ihm in den Bauch.”
Mein Vater war ein sehr sozialer Mensch und hatte während seiner Zeit als Vertreter, immer zu Weihnachten einer armen Familie Strümpfe geschenkt, weil zu Weihnachten bereits die neue Kollektion da war. Auf dem Weg zu dieser Familie kamen ihm zwei junge Burschen entgegen, und der eine zeigte auf meinen Vater und sagte: ‚Das ist ein Jude!‘ Sie schlugen ihn und traten ihm in den Bauch.
Als er nach Hause kam, sagte meine Mutter: ‚Du musst hier weg!‘ Und mein Vater sagte: ‚Ich gehe nicht ohne euch!‘ So wurde beschlossen, dass wir alle gehen. Aber wie und wohin? Wir warteten auf die Pässe, das dauerte ein, zwei Monate. In der Zwischenzeit lösten meine Eltern die Wohnung auf, und dann fuhren wir wie Touristen nach Paris. Jeder durfte zwanzig Mark mitnehmen.”
Großes Foto oben:
Julius und Alfred Chaimowicz im Alter von einem Lebensjahr (Wien, 1933)
Interviewte Person:
Edith Teller Brickell
Zeitpunkt des Interviews:
2002
Interviewerin:
Tanja Eckstein
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