Bericht von

Gertrude Kritzer

1938 war Gertrude Kritzer fünfzehn Jahre alt. Am Morgen des 10. November wurde ihr Vater Adolf Roman Braun festgenommen, zehn Tage lang festgehalten und gefoltert. Erfahre hier, wie Gertrudes Mutter versuchte, die Verhaftung zu verhindern.
November1938-Erlebnisse-Kritzer-Gertrude-ATGKR002-478x700
Gertrude Kritzer in Tel Aviv nach ihrer Flucht aus Wien (1940)

„Trotzdem haben sie meinen Papa mitgenommen…”

„Ich war vor dem Einmarsch der Deutschen zweimal in Wien, aber an Erinnerungen von Wien sind mir jene ab Herbst 1938 geblieben: da habe ich das ganze Grauen mit angesehen.

Obwohl ich jetzt schon fast fünfzig Jahre wieder in Wien lebe, sehe ich es noch immer vor mir: Ich bin mit meinem Papa von der Schiffschul nach Hause gegangen. Auf dem Karmelitermarkt ist mein Hebräischlehrer – bei dem ich zweimal im Kurs war, ehe er verboten worden ist – auf einem Sessel gesessen, der auf einem Tisch gestanden ist. Dieser Mann war Epileptiker und die Uniformierten hatten ihn speziell herausgesucht. Sie haben ihm mit der Schere den Bart abgeschnitten und das Blut ist an ihm herunter gelaufen und die haben Fotos gemacht, wahrscheinlich für den ‚Stürmer‘, und geschrieen: ‚Mach das Ohr so, die haben ja nicht so kleine Ohren!‘ Wahrscheinlich wurden die Ohren dann vergrößert und er wurde als hässlicher Jude im ‚Stürmer‘ [Antisemitische Zeitung] abgebildet. Wer so etwas gesehen hat, vergisst es nie!

„Was ich dort am Karmelitermarkt gesehen habe, war grauenhaft. Das kann man sich gar nicht vorstellen.”

Im Herbst 1938 waren die jüdischen Geschäfte schon alle geschlossen. Nach dem Krieg wollte ich nie im 2. Bezirk leben. Später habe ich das bedauert. Denn heute gefällt es mir, wenn ich freitags oder an einem anderen Tag im 2. Bezirk bin und so viele fromme Juden sehe. Aber meine Erinnerungen an den 2. Bezirk sind schauderhaft. Was ich dort am Karmelitermarkt gesehen habe, war grauenhaft. Das kann man sich gar nicht vorstellen.

Als sie meinen Papa am 10. November 1938, nach der Pogromnacht, aus der Wohnung abgeholt haben, hat meine Mama ihnen alles gegeben, damit sie ihn nicht mitnehmen.

Kleines Foto oben:

Gertrude Kritzer

Foto aufgenommen in:

Tel Aviv (1940)

Interviewte Person:

Gertrude Kritzer

Zeitpunkt des Interviews:

2003

Interviewerin:

Tanja Eckstein

November1938-getrude-kritzer-eltern-irma-und-adolf-roman-blum-cropped-473x473
Irma und Adolf Roman Blum, die Eltern von Gertrude Kritzer in Krumbach (ca. 1920)

‚Lasst meinen Mann, lasst meinen Mann da, nehmt ihn nicht mit‘, weinte meine Mama, aber es hat nicht geholfen. Ich glaube, meine Eltern hatten ziemlich viele Wertpapiere. Die hat sie ihnen gegeben. Sie haben ihr noch den Ehering vom Finger gezogen und ihre Ohrringe genommen. Trotzdem haben sie meinen Papa mitgenommen und misshandelt.

Nach zehn Tagen kam er zurück. Seine vorher schwarzen Haare waren schneeweiß.“

November1938-Erlebnisse-Kritzer-Gertrude-ATGKR003-250x250

Mehr über Gertrude Kritzer erfahren?

Die gesamte Biographie von Gertrude Kritzer findest du hier auf centropa.org.

Viele weitere Fotos von Gertrude Kritzer und ihrer Familie kannst du in der Centropa-Fotodatenbank finden.

Ressourcen

Mehr über die Novemberpogrome erfahren?

Die Zeitzeugenberichte auf dieser Website bieten nur einen ausgewählten Einblick in die Geschichte um die Novemberpogrome 1938.

Wir haben ein umfangreiches Verzeichnis von Ressourcen zusammengestellt, mit deren Hilfe du dein Wissen vertiefen kannst.

Das Foto im Hintergrund zeigt ein zerstörtes Schuhgeschäft in Wien am 10.11.1938
(Foto: Wiener Library/DöW F. Nr. 6392)

Weitere Berichte

Erwin Landau

Der neunjährige Erwin Landau versuchte nach den Pogromen zunächst, mit seiner Familie nach Frankreich zu fliehen – und landete schließlich in Shanghai.

Weiterlesen »

Sophie Hirn

Sophie Hirn war neun Jahre alt, als sie die Pogromnacht erlebte. Sie berichtet, wie ihre Ausgrenzung durch die Nazis letztlich ihre Beziehung zur jüdischen Tradition stärkte.

Weiterlesen »

Kurt Brodmann

Fünfzehn Jahre alt war Kurt Brodmann zur Zeit der Novemberpogrome. Hier schildert er seine Erinnerungen daran, wie seine Mutter ihre Fahrkarte ins sichere Shanghai verschenkte, um sich um seinen Großvater zu kümmern.

Weiterlesen »
Scroll to Top